Since its founding in the 1960s, the University of Regensburg has positioned itself as a bridge between East and West. It fostered a vibrant exchange of scholars across the Iron Curtain, particularly after the signing of the Helsinki Accords in 1975. Drawing from archival records, a microstudy led by Natali Stegmann and Andreas Becker in collaboration with Theresa Müller explores the visits of scholars from socialist states, providing insights into the University’s role in knowledge transfer during the era of détente and globalization.
Universität Regensburg zwischen 1974 und 1985, © Universitätsarchiv Regensburg
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Die Universität Regensburg (UR) versteht sich seit ihrer Gründung im Jahr 1962 als Brücke zwischen Ost und West; ein Ausdruck dieses Selbstverständnisses war auch der rege Austausch zwischen Wissenschaftler (und seltener Wissenschaftlerinnen) über die Grenzen des Eisernen Vorhangs hinweg. Wissenschaftsaustausch entfaltete sich in engem Zusammenhang mit der Zirkulation von Wissen, Personen und Ideen insbesondere nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki 1975;[1] einem Prozess, der im Kontext von Entspannung und Globalisierung stand.[2] Einen vertieften Einblick in Zustandekommen und Durchführung entsprechender Maßnahmen geben die Akten unseres Universitätsarchivs, welche die Besuche von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern[3] aus „Osteuropa“ – damit sind hier pragmatisch die sozialistischen Volksrepubliken gemeint – an der UR dokumentieren. In einer von Natali Stegmann (Lehrstuhl für Geschichte Südost- und Osteuropas) unter Mitarbeit von Andreas Becker (Leiter des Regensburger Universitätsarchivs) im Sommersemester 2020 durchgeführten Übung haben wir diese Akten studiert und analysiert; das Ergebnis dieser Arbeit ist der vorliegende Essay. Teresa Müller, unsere Koautorin, war als Studentin an der Übung beteiligt. Bei der Planung der Übung und der Einordnung der Quellen konnten wir u. a. von der Vorarbeit des in einer ähnlichen Konstellation aus einem Hauptseminar von Klaus Buchenau (Lehrstuhl für Geschichte Südost- und Osteuropas), wiederum unter Mitarbeit von Andreas Becker, im Sommersemester 2015 entstandenen Werks „Die Universität Regensburg im Kalten Krieg“ profitieren.[4]
Die UR im Geflecht von Kaltem Krieg, Entspannung und friedlicher Koexistenz
Der Kalte Krieg: Das ist mehr als ein Epochenbegriff. „Kalter Krieg“ ist eine mentale Haltung, welche nicht nur die systemische Verschiedenheit zweier Blöcke unterstellt, sondern davon ausgeht, dass sich diese Blöcke feindselig gegenüberstanden, dass diese in einem ideologischen und ökonomischen Wettbewerb auch um territoriale Vorherrschaft standen, der kompromisslos und auf unterschiedlichen Feldern ausgetragen wurde. Zwischen diesen Blöcken bestanden, so impliziert es das Bild vom „Eisernen Vorhang“, demnach wenig Austausch und kaum Gemeinsamkeit.[5] Das Phänomen des wissenschaftlichen Austauschs konterkariert diese Vorstellung in vielerlei Hinsicht, denn zunächst verweist es schlicht darauf, dass es Reisemöglichkeiten, Kontakte und Gedankenaustausch gab, dass diese offenbar institutionalisiert waren und mithin staatliche und private Förderung erhielten. Die bloße Tatsache, dass die UR Wissenschaftsaustausch über den Eisernen Vorhang hinweg förderte, lässt vermuten, dass ihr Handeln eben nicht dem Geiste des Kalten Krieges entsprang. Daraus ergeben sich weitere Fragen: Welcher Art waren die Kontakte? Welchen Regeln unterlagen sie und welchen Schwierigkeiten traten auf? Wer initiierte diese Kontakte und in welcher Absicht? Wer profitierte davon? Gab es ein Macht- oder ein Wissensgefälle dahinter? Handelte es sich um gegenseitige Besuche oder waren die Besuche „aus dem Osten“ wesentlich anderen Charakters als die „in den Osten“?
Wenn die UR seit ihrer Gründung eine Brückenfunktion für sich beanspruchte und wenn dies nicht bloß geographisch gemeint war, stellt sich die Frage, aus welcher Grundhaltung heraus dies geschah. Wenn der Wissenschaftsaustausch eben nicht als Teil eines mentalen „Kalten Kriegs“ zu lesen ist, stand dieser dann vielmehr im Kontext der Entspannung bzw. der Détente?[6] Zugespitzt: Kamen Gastwissenschaftler aus dem sozialistischen Ausland eher als Freunde oder als Wissenschaftsspione bzw. – umgekehrt – mit welcher Absicht und mit welchem Auftrag machten sich die Regensburger Professoren auf den Weg „nach drüben“? Fielen möglicherweise Auftrag und Absicht auseinander, wie etwa im Falle von Wissenschaftsspionage im Zuge eines formal freundschaftlichen Austauschs? Schließlich steht zur Debatte, welcher Stellenwert dem Wissenschaftsaustausch im Prozess der gegenseitigen Annäherung wie auch der Erosion des Staatsozialismus zukam. Diesen Fragen nachgehend wird hier zunächst kurz der historische Kontext skizziert, um dann die oben aufgeworfenen Fragen anhand kurzer Fallstudien darzulegen.
Die Idee einer grundlegenden Dichotomie zwischen den Hegemonialmächten USA und Sowjetunion im „Kalten Krieg“ verstellt den Blick auf parallel- und entgegenlaufende Prozesse ebenso leicht wie auf nicht-hegemoniale Akteure. In dieser Perspektive liegt Regensburg zwar geographisch in der Mitte, aber keineswegs im Zentrum des Geschehens […].
In der auch nur oberflächlichen Betrachtung der Akten des Universitätsarchivs tritt sehr schnell zu Tage, dass sich in erster Linie die Verwaltungsseite des Austauschs abbildet. Wir erfahren in der Regel weder, wie lange Gast und Gastgeber abends beisammengesessen haben, noch, worüber sie sprachen und ob sie am Wochenende gemeinsame Ausflüge unternahmen und auch nichts über die Intensität der Kontakte. Hinter der Verwaltung von Austauschprogrammen verschwinden auch die Zäsuren von 1975 („Helsinki“) und 1989 („Wende“ / „Revolution“ / „Systemtransformation“) insofern, als dass sie in den Akten nicht erwähnt oder diskutiert werden. Dennoch kann ein Studium dieser Akten unter Einbeziehung des Kontexts viele Fragen beantworten.
Die Idee einer grundlegenden Dichotomie zwischen den Hegemonialmächten USA und Sowjetunion im „Kalten Krieg“ verstellt den Blick auf parallel- und entgegenlaufende Prozesse ebenso leicht wie auf nicht-hegemoniale Akteure. In dieser Perspektive liegt Regensburg zwar geographisch in der Mitte, aber keineswegs im Zentrum des Geschehens; es wäre also zunächst einmal zu fragen, wo der Ort unserer Universität im fraglichen Kontext liegt, an der Schnittstelle welcher Entwicklungen sich der Wissenschaftsaustausch zwischen „Ost“ und „West“ in Regensburg entfaltete. Wissenschaftsaustausch ist nicht gut erforscht; er wird überwiegend als ein Phänomen der Entspannungspolitik der 1970er Jahre interpretiert.[7] Ein Blick in unser Universitätsarchiv legt nahe, dass dies zu kurz gegriffen sein könnte. Denn tatsächlich fand Wissenschaftsaustausch mit dem sozialistischen Ausland seit Gründung der Universität, also schon seit 1968 statt. Einen besonderen Stellenwert nahm dabei Jugoslawien als blockfreier Staat ein. Auf der Grundlage eines bestehenden Kulturabkommens mit Jugoslawien nahm die UR offenbar unmittelbar nach ihrer Gründung entsprechende Kontakte auf.[8] Eine zentrale Rolle kam hierbei dem gewählten Gründungsrektor Franz Mayer (1920–1977) zu. Der Jurist hatte aus der deutschen Partisanenbekämpfung während des Zweiten Weltkriegs Kontakte dorthin, die er in diesem Sinne nutzte.[9] Seit 1967 lassen sich Vorträge von Wissenschaftlern aus der ČSSR und der Volksrepublik Polen nachweisen; seit 1980 kaum auch Besuch aus der DDR.[10]
Im Fokus auch der Regensburger Kontakte stünde damit das produktive Moment der Systemkonkurrenz; Austauschprogramme wären in dieser Lesart Ausdruck eines wissenschaftlichen Wettbewerbs, einer im Kern wohlgesonnenen – wenn nicht freundschaftlichen – Konkurrenz. Der Austausch versprach Vorteile unterschiedlicher Art, und dies nicht allein auf Seiten des „Ostens“ […].
Die Art und Intensität der Kontakte sprechen dafür, dass die von der Bundesrepublik ausgehandelten Abkommen innerhalb der UR zeitnah umgesetzt wurden. Da wären zunächst die noch von der Großen Koalition 1968/69 ausgehandelten Abkommen mit Rumänien und Jugoslawien sowie die dann von der 1969 gewählten sozial-liberalen Koalition 1970 abgeschlossenen Verträge mit Moskau und Warschau sowie die Aufgabe des sogenannten Alleinvertretungsanspruchs der BRD, durch den diplomatische Beziehungen zwischen der DDR und den „westlichen“ Staaten einschließlich der BRD ermöglicht wurden.[11] Der Versuch der Großen Koalition, Verträge auch mit den blockgebundenen Staaten zu schließen, war an Moskau gescheitert, da die damaligen bundesdeutschen Emissäre sich nicht bereitgefunden hatten, die deutsche Zweitstaatlichkeit diplomatisch anzuerkennen. An der UR wurden Wissenschaftskontakte mit Universitäten in der DDR etabliert; Zusammenarbeit mit sowjetischen Wissenschaftlern gab es nur in Einzelfällen. Wissenschaftsaustausch stand im übergeordneten Kontext der Entstalinisierung und des Chruschtschow‘schen Konzepts der Friedlichen Koexistenz. Die Idee der Friedlichen Koexistenz gilt als Ausgangspunkt des Helsinki-Prozesses.[12] Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow dachte im Kontext der Entstalinisierung nicht nur über eine Annäherung an den Westen nach; es stand auch zur Disposition, den Satellitenstaaten einen, wenn auch limitierten Freiraum für eine eigenständige Entwicklung zu gewähren. Diesem Freiraum wurden insbesondere mit der Niederschlagung des Prager Frühling entlang der Breschnew-Doktrin enge Grenzen gesetzt, wodurch auch die Idee der Friedlichen Koexistenz einen jähen Rückstoß erlitt. Dennoch ging von der Einsicht, dass Kooperation auch unter den Bedingungen der Systemkonkurrenz ein Vorteil war, und dass die Satellitenstaaten nicht allein mit Gewalt und Propaganda an die Sowjetunion gebunden werden konnten, ein wesentlicher Impuls auch für den Wissenschaftsaustausch mit dem Westen aus. Im Fokus auch der Regensburger Kontakte stünde damit das produktive Moment der Systemkonkurrenz; Austauschprogramme wären in dieser Lesart Ausdruck eines wissenschaftlichen Wettbewerbs, einer im Kern wohlgesonnenen – wenn nicht freundschaftlichen – Konkurrenz. Der Austausch versprach Vorteile unterschiedlicher Art, und dies nicht allein auf Seiten des „Ostens“; offenbar waren auch die Regensburger Professoren (Professorinnen gibt es in den von uns untersuchten Akten nicht) zumindest neugierig und begriffen den Austausch als sinnvoll. Dass dabei Kontakte in die Sowjetunion eher eine untergeordnete Rolle spielten,[13] verweist darauf, dass sich die Satellitenstaaten im Zuge der schrittweisen Öffnung hin zum Westen orientierten; Nachbarschaft und eine geteilte Geschichte gaben oftmals den Impuls für diese Kontakte.
Akteure, Programme, Partnerschaften
Es zeichnet sich ab, dass der Austausch an und mit der UR eine andere Ausrichtung hatte als der etwas besser erforschte Austausch zwischen den USA und der Sowjetunion als Hegemonialmächte. In seiner Untersuchung zum kulturellen Austausch im Kalten Krieg zeichnet Yale Richmond für den letztgenannten Fall folgendes Bild: Während diejenigen, die aus den USA in die Sowjetunion gingen, meistens Regionalwissenschaftler*innen, also, Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen mit einem Interesse für russische respektive sowjetische Sprache, Kultur und Geschichte waren, kamen in die USA vor allem Naturwissenschaftler*innen und später auch Sozialwissenschaftler*innen mit einem mehr oder minder klaren Auftrag zur Spionage. Während Richmond im Fall der in die Sowjetunion reisenden US-Amerikaner vor allem Schwierigkeiten mit der Einreise, beschränkte inländische Reisemöglichkeiten, die Gängelung durch Behörden und erschwerten Zugang zu Archiven hervorhebt, unterstreicht er im Falle der sowjetischen Gäste, wie sehr diese während ihrer Aufenthalte in den USA vor allem durch freien Zugang zu Literatur und offene Gespräche ihren Horizont erweitern konnten und in nicht wenigen Fälle gerade unter diesem Eindruck zu Mitarchitekten der Perestroika wurden.[14]
Auffällig ist, wie stark diese Betrachtungsweise durch die oben geschilderte Mentalität des Kalten Krieges und insbesondere durch die Fixierung auf den Antagonismus zweier Hegemonialmächte geprägt ist. Auch wenn es Asymmetrien im wissenschaftlichen Austausch an der Universität Regensburg gab (und immer noch gibt), die insbesondere aus dem seit den 1960er Jahren größer werdenden technologischen sowie dem Wohlstandsgefälle resultieren, so zeichnen sich hier doch andere Muster ab. Für das polnische Beispiel konnten wir folgende Zahlen eruieren: In den Jahren 1979 bis 1987 kamen laut den im Universitätsarchiv verwahrten Akten des Vereins der Freunde der Universität Regensburg 29 Personen von polnischen Universitäten mit Unterstützung des Fördervereins an die UR, darunter vier (männliche) Theologiestudenten, 16 Professoren und ein Dr. habil. (alle männlich), und fünf promovierte Wissenschaftler sowie zwei promovierte Wissenschaftlerinnen. Im Zeitraum zwischen 1979 und 1987 besuchten zwölf Regensburger Professoren und ein Privatdozent (alle männlich) polnische Partneruniversitäten.[15] Wenn wir dabei nur die Professoren betrachten, so waren zwar die Besuche aus Polen etwas häufiger als die nach Polen, dennoch kann der Austausch als gegenseitig gelten. Die Beteiligten kamen darüber hinaus in aller Regel vom selben Fach. Eine prominente Rolle spielten hierbei die juristische Fakultät und allen voran Professor Friedrich-Christian Schröder (Austausch mit der Sowjetunion und Polen) sowie Professor Rainer Arnold, Peter Gottwald sowie die beiden Rektoren Franz Mayer (Jugoslawien) und Dieter Henrich (ČSSR); aktiv waren aber auch Historiker[16], Germanisten[17] und Romanisten,[18] Slavisten,[19] Theologen[20] und Naturwissenschaftler.[21] In die fraglichen Aktivitäten waren nicht nur Professoren involviert, sondern auch Angehörige des Mittelbaus sowie zahlreiche Studentinnen und Studenten; sei es, weil diese an Exkursionen teilnahmen oder weil sie die Veranstaltungen der Gastprofessoren besuchten.
In einer näheren Betrachtung der gegenseitigen Besuche stellt sich weiter die Frage, inwiefern diese als Ausdruck „informeller Diplomatie“ gelten können und ob sich dies auch in den hier untersuchten Akten ausdrückt. Informelle Diplomatie als „Détente from below“ war laut Giles Scott-Smith Bestandteil eines größeren Prozesses der Durchbrechung und Unterminierung von nationalen wie auch Systemgrenzen, welcher zu einem vielfältigen Austausch nicht nur zwischen Personen, Institutionen, Nationen und Systemen führte, sondern auch die Interaktion zwischen unterschiedlichen Akteuren neu codierte.[22] Diese Entwicklung liegt an der Schnittstelle von Globalisierung und Kaltem Krieg und sie mündet schließlich in den Umbruch von 1989. Ihre Träger waren „cultural broker“[23] (kulturelle Vermittler). Eine solche Vermittlerrolle käme mithin, so unsere These, auch den Angehörigen der Universität Regensburg zu.
Wir verfolgen dabei die These, dass der akademische Austausch Dynamiken entfaltete, die jenseits der administrativen Rahmungen die fraglichen Akteure zu Vermittlern und deren Handeln damit in den größeren Zusammenhang der Auflösung strikter Ost-West-Dichotomien seit den späten 1960er Jahre machten.
Der Wissenschaftsaustausch an der UR fand im Rahmen entsprechender bilateraler Abkommen (zwischen den Regierungen) statt und wurde vor Ort auf unterschiedliche Weise gefördert, etwa durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Wie zu zeigen sein wird, war auch die Förderung durch den Verein der Freunde und Förderer der Universität von großer Wichtigkeit. Darüber hinaus war die UR im Sinne des gleichnamigen DAAD-Programms bemüht, Ostpartnerschaften[24] mit Universitäten in den osteuropäischen Staaten abzuschließen. Innerhalb dieses Rahmens bewegten sich die Angehörigen der UR und ihre Gäste. Von deren Engagement und Bereitschaft hing der formale Erfolg des Austausches ab.
Der skizzierte Rahmen bot zahlreiche Möglichkeiten, die von einzelnen Persönlichkeiten – aufgrund von biographischen Erfahrungen, akademischen Interessen oder dem Wunsch nach Intensivierung bestehender persönlichen und fachlichen Austausches – auf unterschiedliche Weise ausgefüllt wurden. Die folgenden Ausführungen breiten exemplarisch einige gut dokumentierte und anschauliche Beispiele aus. Es handelt sich dabei zunächst um den Austausch des Juraprofessors und langjährigen Rektors der UR Dieter Henrich mit zwei polnischen Kollegen, sodann um das Engagement des Vereins der Freunde und Förderer der UR im Sinne der Ostpartnerschaften sowie der Brückenbildung. Dieses Engagement wird am Beispiel zweier besonders hervorstehender Projekte vertieft, nämlich der Bemühungen um die Verwirklichung eines Partnerschaftsabkommens mit einer polnischen Universität (1985) und der Förderung des Workshops „Hot Particles in the Chernobyl Fallout“ (1987). Wir verfolgen dabei die These, dass der akademische Austausch Dynamiken entfaltete, die jenseits der administrativen Rahmungen die fraglichen Akteure zu Vermittlern und deren Handeln damit in den größeren Zusammenhang der Auflösung strikter Ost-West-Dichotomien seit den späten 1960er Jahre machten.
„Das Zusammentreffen mit Ihren Studenten hat mir auch grosse Satisfaktion gebracht“
Das Studium der Akten des Universitätsarchivs verweisen klar darauf, dass neben den bestehenden Abkommen persönliche Initiativen das zentrale Moment im Wissenschaftsaustausch waren. Als Beispiel eines intensiven Austauschs soll hier der Kontakt zwischen Professor Dieter Henrich, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Rechtsvergleichung, und zweier polnischen Juristen, Jan Winiarz[25] und Leopold Stecki[26] von der Nikolaus-Kopernikus-Universität Toruń (Uniwersytet Mikołaja Kopernika w Toruniu) skizziert werden. Stecki lehrte auch an der Adam-Mickiewicz-Universität Posen (Uniwersytet im Adama Mickiewicza w Poznaniu); er hatte, wie zu dieser Zeit nicht unüblich, Probleme mit der Erlangung einer Professur, konnte aber trotzdem wissenschaftlich tätig sein. 1927 geboren, erlangte er erst 1989 eine ordentliche Professur. In der Zeit eingeschränkter wissenschaftlicher Freiheit verbrachte er zahlreiche Gastaufenthalte (u a. in Cambridge, Oxford und München).[27] Henrich war von Oktober 1973 bis September 1981 Rektor der Universität Regensburg. Diesem Umstand verdanken wir die Tatsache, dass sich die Korrespondenz zwischen ihm und den polnischen Kollegen in den Akten der Zentralregistratur[28] erhalten hat.
Die Universität mietete für die Gäste eine Unterkunft, die mit Frühstück 37 DM am Tage kostete […].
Im Januar 1979 richtete Henrich einen Brief an Winiarz, in welchem er diesen und Stecki dazu einlud, im Sommersemester desselben Jahres im Rahmen seiner Vorlesung zum Familienrecht für drei bis vier Tage nach Regensburg zu kommen. Er nahm dabei auf seinen vorausgegangenen Besuch in Toruń Bezug, bei dem er sehr anregende Gespräche mit Stecki über Rechtsvergleichung, insbesondere im Familienrecht und hinsichtlich der kurz zuvor in der BRD erlassenen Änderungen des Adoptions- wie des Scheidungsrechts geführt habe. Auch führt er lapidar an, „Fragen einer weiteren wissenschaftlichen Kooperation zwischen unseren beiden Universitäten [..] erörtern“ zu wollen.[29] Aus der Korrespondenz geht hervor, dass Henrich Stecki mit Literatur versorgt hatte, die dieser begierig studierte.[30] Henrich bemühte sich im nächsten Schritt um eine Förderung durch den DAAD im Rahmen der Ostpartnerschaften, die er erhielt. Die Tagessätze betrugen für ordentliche Professoren 105 DM und für Dozenten 90 DM.[31] Die Universität mietete für die Gäste eine Unterkunft, die mit Frühstück 37 DM am Tage kostete;[32] den Rest bekamen die Gäste überwiesen; die Reisekosten trugen die entsendenden Universitäten. Für Stecki war der Aufenthalt Teil eines länger geplanten viermonatigen Gastaufenthalts in der BRD, den er hauptsächlich in Hamburg verbrachte.[33] In Regensburg waren die beiden polnischen Professoren vom 25. bis 29. Juni 1979. Im August 1979 bedankte sich Stecki überschwänglich für Gastfreundschaft, persönliche und wissenschaftliche Kontakte, die angenehme Atmosphäre sowie Bücher- und Zeitschriftengeschenke. In diesem Schreiben findet sich auch der in der Zwischenüberschrift wiedergegebene Satz über den Austausch mit den „Studenten“ („Das Zusammentreffen mit Ihren Studenten hat mir auch grosse Satisfaktion gebracht“; es dürften auch Studentinnen darunter gewesen sein).[34] Dieser Satz illustriert exemplarisch einige Charakteristika der fraglichen Korrespondenz. Zunächst ist auffällig, dass diese durchweg auf Deutsch erfolgte. Winiarz und Stecki schrieben teilweise per Hand und beherrschten offenbar beide so gut Deutsch, dass sie beinahe keine Fehler machten. Die „Satisfaktion“ steht dabei für gelegentlich nicht zeitgemäße oder nicht ganz passende Ausdrucksweisen. Die nicht-handschriftliche Korrespondenz erfolgte per Schreibmaschine und eine polnische Schreibmaschine hatte keine Eszett-Taste; daher die „grosse Satisfaktion“. Darüber hinaus wurden in den Schreiben bei sämtlichen Umlauten die „Strichelchen“ gewissenhaft handschriftlich ergänzt, was diesen deutschsprachigen Briefen „aus dem Osten“ eine ganz spezifische Erscheinungsform verleiht.
doi number
doi: 10.15457/frictions/0028
Schreiben Steckis an Henrich, vom 11. August 1979, UAR, ZR 3397, © Universitätsarchiv Regensburg
Für das Wintersemester 1981/82 und das Sommersemester 1982 schließlich lud Henrich Stecki als Gastprofessor nach Regensburg ein; ein entsprechender Antrag bei der DFG wurde in einem Umfang von 79.105,20 DM positiv beschieden[35] und Stecki reiste mit Genehmigung der polnischen Behörden nach Regensburg.[36] Auch der Kontakt zu Winiarz bestand weiter.[37] Er korrespondierte mit beiden Kollegen sowie mit den fördernden Stiftungen ausgiebig. Es muss ihm also etwas daran gelegen haben; die Korrespondenz legt nahe, dass das fachliche Interesse und die Freude am Austausch hier im Vordergrund standen. Sprechend ist in diesem Zusammenhang eine kurze Bemerkung des Rektors, der einen wesentlichen Umstand markiert: „Mir geht es ähnlich wie Ihnen. Die wissenschaftliche Arbeit macht mir mehr Freude als das bloße Verwalten.“[38] Auf Seiten der polnischen Kollegen klingen die Bemerkungen teils enthusiastisch. Für sie boten diese Aufenthalte Möglichkeiten zum Studium von Literatur, an die sie in Polen kaum herankamen, zum freien Gedankenaustusch und nicht zuletzt waren diese Aufenthalte angesichts der schlechten Bezahlung, die sie zu Hause erhielten, auch finanziell attraktiv.
Die Universität Regensburg als Brücke zwischen Ost- und Westeuropa im Spiegel der Akten des Vereins der Freunde
An unserer Universität war der (immer noch aktive) „Verein der Freunde der Universität Regensburg e. V.“ eine wichtige Institution bei der Verwirklichung der Ost-West-Kontakte. Derselbe trug nicht nur zur Gründung der Universität bei, sondern maßgeblich auch zum akademischen Austausch, bevorzugt mit osteuropäischen Ländern. Die Universität leistete offenbar vermittels ihrer Projekte und auf Grund der vom Verein der Freunde und Förderer unterstützten Beziehungen zu Osteuropa einen wertvollen Beitrag zur Entspannung zwischen Ost und West. Darunter fällt auch das Bestreben der Anbahnung von (Ost)Partnerschaften mit mehreren polnischen Universitäten ebenso wie der Workshop „Hot Particles in the Chernobyl Fallout“, zu dem die Universität im Jahre 1987 verschiedene Wissenschaftler unter anderem aus osteuropäischen Ländern einlud. Es handelt sich hierbei um zwei besonders bemerkenswerte Vorgänge, weswegen diese im Weiteren gesondert dargestellt werden.
Als Hauptgeldgeber für den Wissenschaftsaustausch fungierte die Universität selbst, vor allem die Lehrstühle und Fakultäten. Oftmals reichten jedoch deren Mittel nicht aus, weswegen die Universität andere Institutionen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), den DAAD oder den Verein der Freunde und Förderer um Kostenübernahmen bat. Im Gegensatz zu DFG und DAAD befasste sich der Verein der Freunde ausschließlich mit den Belangen der Universität Regensburg und war deshalb ein bevorzugter Ansprechpartner für wissenschaftliches Personal, wenn es um die Finanzierung ihrer Projekte ging. Aufgrund dieser Sonderstellung sind aus den Akten des Vereins viele Informationen zu entnehmen, wie zum Beispiel die Motivationen der Antragstellenden für den Austausch und die Einschätzungen des jeweiligen Rektors der Universität.
Der Verein der Freunde wurde 1948 mit der Absicht gegründet, eine Universität in Regensburg zu gründen. Als 1968 der Lehrbetrieb aufgenommen wurde, änderte der Verein seine Zielsetzung und machte es sich zur Aufgabe, wissenschaftlich tätige Universitätsangehörige finanziell zu unterstützen. Eine Aufschlüsselung der meist jährlich erscheinenden Berichte des Vereins macht den hohen Stellenwert der Kontakte nach Osteuropa empirisch fassbar: In den Jahren 1975 bis 1990 betrug das Fördervolumen des Vereins der Freunde im Hinblick auf die universitären Beziehungen nach Osteuropa insgesamt ca. 80.000 DM; davon entfielen 22.007 DM auf den Posten „Osteuropa allgemein“. Zuvorderst wurde daraus Druckkostenzuschüsse für die Schriftenreihe des 1968 gegründeten Osteuropa-Instituts Regensburg e. V. gewährt (17.007 DM), außerdem Exkursionen (16.250 DM), Forschungsaufenthalte (13.303 DM), Stipendien (10.900 DM), Reisekosten (9672 DM), Veranstaltungen (7.155 DM) und Gastvorträge (5.905 DM). Nach Ländern aufgeschlüsselt ergibt sich folgendes Bild: Mit 16.574 DM wurden an erster Stelle Kontakte mit Jugoslawien bezuschusst; an zweiter Stelle standen Kontakte nach Polen (15.732 DM), an dritter solche in die UdSSR (9.556 DM), an vierter die DDR (7.7.50 DM), gefolgt von der ČSSR (5.650 DM), Rumänien (1.700 DM) und Ungarn (950 DM).[39] Diese Zahlen illustrieren eindrücklich die Absicht des Vereins, die Kontakte der Universität Regensburg in die fragliche Region zu stärken.
„Die Vertiefungen alter und der Anknüpfung neuer wissenschaftlicher Beziehungen”: Der Experimentalphysiker Hoffmann auf polnischer Mission
Dass die Universität Regensburg besonders Ostbeziehungen fördern wollte, manifestierte sich in den zahlreichen Bemühungen um den akademischen Austausch mit vor allem polnischen Universitäten. Dazu gehörten auch Pläne, die Universitäten Łódź, Poznań (Posen), Krakau, Wrocław (Breslau) und Warschau als Partneruniversitäten (im Sinne des DAAD-Programms „Ostpartnerschaften“) zu gewinnen. Im Zuge mehrerer Austausche wurden Professoren der UR dazu angeregt, Ost-Kontakte einzugehen, die der Verein der Freunde und Förderer entsprechend unterstützte. Das hochschulpolitische Interesse an den Kooperationsvereinbarungen sticht dabei klar hervor.
Eine besondere Rolle kam einem Physiker zu. Der Dekan des Instituts für Experimentalphysik, Prof. Dr. Horst Hoffmann, plante im Jahr 1985 eine Forschungsreise an die Universitäten der o. g. polnischen Städte. Nachdem sein Antrag auf Förderung durch die DFG abgelehnt worden war, bewarb er sich beim Verein der Freunde und Förderer um finanzielle Unterstützung. In seinem Antrag erwähnte Hoffmann, dass es ihm aufgrund früherer Kontakte in Łódź leichtfallen würde, die angestrebte Partnerschaft zu vermitteln. Die Pläne, Kontakte zu den anderen erwähnten Universitäten herzustellen, konkretisierte der Antragsteller nicht weiter. Das Ziel ein Partnerschaftsabkommen auf den Weg zu bringen, spielte die entscheidende Rolle für die Genehmigung des Antrags; die Reise lag nämlich im Interesse der Universitätsleitung.
In der Korrespondenz mit den Freunden und Förderern betonte Hoffmann, die Reise diene „der Vertiefung alter und der Anknüpfung neuer wissenschaftlicher Beziehungen zwischen polnischen Forschungsstätten und unserer Universität“.[40] Durch diese Hervorhebung wird klar, dass ihm bewusst war, wie wichtig der UR das Abkommen mit Łódź war. Außerdem wird damit deutlich, dass nicht nur Łódź als mögliche Partneruniversität im Raum stand, sondern auch andere Einrichtungen in Polen, wie zum Beispiel Posen und Warschau. Auch Präsident Bungert[41] bekräftigte die Hoffnung auf eine erfolgreiche Verhandlung eines Partnerschaftsvertrags mit Łódź. Außerdem schrieb er: „Ich bin sicher, von Herrn Hoffmann einen interessanten Bericht über seine Eindrücke in Polen und die Möglichkeiten für den angestrebten Partnerschaftsvertrag mit der Universität Lodz zu erhalten“.[42] Da die Empfehlung des Präsidenten großes Gewicht beim Verein der Freunde hatte, wurden daraufhin die Förderungsgelder in Höhe von 800 DM bewilligt. Hoffmann konnte somit die Forschungsreise nach Polen unternehmen. Es gelang ihm allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Universität Łódź als Partner zu gewinnen.
Obwohl es also formale Bestrebungen gab, eine polnische Universität als Partner zu gewinnen, hat es fast ein Jahrzehnt gedauert, bis am 2. April 1992, also nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ ein Partnerschaftsvertrag zwischen Łódź und Regensburg zustande kam.
Im Jahr 1987 bewarb sich Hoffmann nochmals um Förderungsgelder beim Verein der Freunde und Förderer. In diesem Fall ging es um die Finanzierung eines Aufenthalts für den seit 1971 am Posener Institut für Molekularphysik beschäftigten polnischen Wissenschaftler Prof. Dr. Feliks Stobiecki. Dieser forschte gemeinsam mit Hoffmann an dem Projekt „Festkörperdiffusion in amorphen Schichten“. Stobiecki musste für die Weiterarbeit mit Hoffman eine Beurlaubung beantragen, weshalb seine Einkünfte während der Zeit entfielen, da er in Regensburg an dem Projekt forschte. Deshalb wandte sich Hoffmann erneut an den Verein der Freunde und Förderer.[43] Er betonte, dass eine Weiterarbeit mit Stobiecki die Bemühungen um ein Partnerschaftsabkommen weiter vorantreiben könne. Wieder wurde der Antrag sowohl vom Präsidenten der Universität als auch dem Präsidenten des Vereins unterstützt. Im Vergleich zu anderen Anträgen war der bewilligte Zuschuss in Höhe von 2000 DM ungewöhnlich hoch.[44] Die Bestrebungen Hoffmanns um ein Partnerschaftsabkommen waren abermals nicht von Erfolg gekrönt.
Obwohl es also formale Bestrebungen gab, eine polnische Universität als Partner zu gewinnen, hat es fast ein Jahrzehnt gedauert, bis am 2. April 1992, also nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ ein Partnerschaftsvertrag zwischen Łódź und Regensburg zustande kam.[45] Trotzdem zeigten zahlreiche Zuschüsse des Vereins der Freunde und Förderer mit der Begründung, dies bringe die UR der Partnerschaft näher, die grundlegende Wichtigkeit dieses Motivs für die Förderung. Die Partnerschaftsabkommen fügten sich nämlich in die Strategie des DAAD. Als Bungert im Februar 1985 beim DAAD Finanzierungsmöglichkeiten für einen geplanten Austausch mit Łódź anfragte, fühlte er sich offenbar in der Pflicht, das Nicht-Zustandekommen eines Partnerschaftsabkommen zu begründen. Er führte dazu aus:
„Sehr früh war auch geplant, mit einer polnischen Universität zu einem Kooperationsabkommen zu gelangen. Von mehreren polnischen Universitäten wurden Fühler ausgestreckt, doch da sich die Interessen der verschiedenen Institute und Wissenschaftler an der Universität Regensburg nicht in einer für die Universitätsleitung überzeugenden Weise bündeln ließen, wurde in der Vergangenheit von ernsthaften Verhandlungen mit einer polnischen Universität, die zu einer Kooperation mit der Universität Regensburg neigte, Abstand genommen.“[46]
Der DAAD teilte daraufhin mit, aufgrund einer „sehr gespannten“ Förderungslage durch eine hohe Anzahl von Kooperationen in den letzten Jahren den Antrag nicht bewilligen zu können. Weiter hieß es, da die „Direktbeziehungen zu Universitäten in der UdSSR“ unterentwickelt seien, wäre die Förderung einer Partnerschaft mit Odessa statt mit dem polnischen Łódź aussichtsreicher.[47] Das übergeordnete Ziel eines Partnerschaftsabkommens galt also als Argument für die Anbahnung und Vertiefung von Forschungskontakten, auch wenn der Verein der Freunde und Förderer der Adressat war. Faktisch förderte letzterer zahlreiche weniger formalisierte Kontakte, die kurz- und mittelfristig nicht zu einem solchen Abkommen beitrugen. Der Erfolg der Mission lag mithin weniger in der Erreichung des genannten Ziels als vielmehr in Kontakten zwischen Kollegen derselben Disziplin. Wie der Austausch des Juristen Heinrich mit Winiarz und Stecki so bewegten sich auch die Kontakte der Regensburger Physiker zu polnischen Kollegen auf einer wenig institutionalisierten, kollegialen Ebene. Für solchen oder ähnlichen Austausch ließen sich zahlreiche weitere Beispiele anfügen. Der Wissenschaftsaustausch an der UR gestaltete sich mithin im Rahmen der o. g. bilateralen Abkommen, war aber nicht immer deckungsgleich mit den Strategien des DAAD. Als kulturelle Vermittler fungierten die beteiligen Wissenschaftler von beiden Seiten des Eisernen Vorhang gerade deshalb.
„Hot Particles in the Chernobyl Fallout“
Für das Institut Physik stellt das nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl im Jahre 1987 ins Leben gerufene Projekt „Hot Particles in the Chernobyl Fallout“ einen zentralen Aspekt der Wissenschaftskontakte nach Osteuropa dar. Es handelte sich um eine zweitägige Tagung in Theuern, welche die UR zusammen mit der Universität Salzburg veranstaltete. In diesem Seminar sollten die Auswirkungen des Reaktorunfalls in Tschernobyl untersucht werden, deren Spuren auch in Regensburg gemessen werden konnten. Verantwortlich für dieses Projekt war Prof. Dr. Henning von Philipsborn, der an der Fakultät für Physik der UR den Lehrstuhl für Kristallographie und Physik innehatte. Dieses Seminar findet seit 1986 halbjährlich in Theuern (Landkreis Amberg-Sulzbach) statt; noch heute werden Wissenschaftler*innen aus ganz Europa dorthin eingeladen, um Vorträge zum Thema Strahlung zu halten.
Aus diesem Grund lud die UR Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern wie Australien und Griechenland, aber auch aus osteuropäischen Staaten wie Bulgarien und Polen ein. Der Zweck war die Untersuchung der von der vom Atomkraftwerk verursachten Strahlung, den sogenannten „hot particles“. Dazu wurde ein Antrag auf die Finanzierung des Besuchs von Prof. Dr. Wilhelmi, einem Professor für Experimentalphysik der Universität Warschau gestellt, damit dieser an der Tagung teilnehmen konnte. Von Philipsborn betonte, dass aufgrund formaler Kriterien keine anderweitigen Mittel zu Verfügung stehen würden und es deshalb unabdinglich sei, dass der Verein der Freunde die Finanzierung übernehme.[48] Die Kostenaufstellung umfasste die Reise nach Regensburg, die Teilnahme am Seminar, sowie drei weitere Tage für einen Besuch nach München, womit sich der Betrag auf 900 DM summierte. Bungert übermittelte den Antrag an den Verein der Freunde und schrieb: „Wegen der Bedeutung und Aktualität des Seminars würde ich es sehr begrüßen, wenn dem polnischen Teilnehmer, der auch einen Vortrag halten wird, Reisekosten in Höhe von 900 DM bewilligt werden könnten“.[49] Der Verein der Freunde folgte dem und ermöglichte den Besuch des Professors und dessen umfassendere Forschung im Bereich der Nuklearphysik. Die Partizipation der osteuropäischen Länder hatte ohne Frage hohe Relevanz für diese Forschung, da das Unglück in dieser Region stattfand und die Messungen vor Ort für den Vergleich der Strahlung in den einzelnen Ländern unverzichtbar waren.
Im Allgemeinen förderte diese Tagung den akademischen Austausch mit Universitäten aus der ganzen Welt, insbesondere mit osteuropäischen Ländern. Im Rahmen des Seminars und der Finanzierungshilfe des Vereins der Freunde und Förderer kam eine Verbesserung der Verbindungen nach Osteuropa zustande. Dies ermöglichte außerdem anderen Wissenschaftlern Kontakte mit Wissenschaftlern aus Osteuropa aufzubauen. Durch die Wiederholung der Veranstaltung wurde auch dafür gesorgt, dass die Teilnehmer die Möglichkeit hatten diese Kontakte zu pflegen und gemeinsam weiter Forschung zu betreiben. Dadurch nahm die Universität ihre Brückenfunktion wahr und ermöglichte die Vernetzung von Wissenschaftler aus der ganzen Welt.
Schlussfolgerung
Heinrich, Winarz und Stecki können ebenso wie die genannten Physiker als gut dokumentierte Beispiele für die Rolle von Wissenschaftlern aus Regensburg und ihrer osteuropäischen Partner als kulturelle Vermittler gelten.
Der Verein der Freunde und Förderer finanzierte bevorzugt Besuche nach und aus „Osteuropa“. Der Experimentalphysiker Hoffmann erhielt deshalb Förderungsgelder für seine Reise nach Polen. Das übergeordnete Motiv für die Bewilligung der Mittel war die Aufnahme der Kontaktgespräche im Sinne der Anbahnung von „Ostpartnerschaften“. Auch der Besuch des polnischen Wissenschaftlers Stobiecki von der Universität Posen ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Durch die Zuschüsse des Vereins gelang es der Universität Kontakte mit Polen zu vertiefen, ohne dass dies kurz- oder mittelfristig in ein Partnerschaftsabkommen mündete. Gerade da die Kontakte in den 1980er Jahren fachlicher und persönlicher Natur waren, da es sich um Kontakte zwischen konkreten Personen mit einem klaren Interesse am wissenschaftlichen Austausch handelte, da mithin diese Kontakte weniger institutionalisiert waren als sie es im Rahmen eines Partnerschaftsabkommens gewesen wären, trugen die Universität Regensburg und der Verein der Freunde und Förderer durch ihre Austausche maßgeblich zur Annäherung bei. Diese Lesart trifft auch auf die Tagung „Hot Particles in the Chernobyl Fallout“ zu, welche das fachliche Interesse und die Möglichkeit zu grenzübergreifendem Austausch noch wesentlich erweiterte.
Heinrich, Winarz und Stecki können ebenso wie die genannten Physiker als gut dokumentierte Beispiele für die Rolle von Wissenschaftlern aus Regensburg und ihrer osteuropäischen Partner als kulturelle Vermittler gelten. Im Sinne von Scott-Smith waren sie mithin Teil eines kulturellen Umbruchs, der den Systemumbruch von 1989 begleitete. Der wissenschaftliche Austausch war nämlich Teil eines fortgesetzten Prozesses der Performation des Eisernen Vorhangs, eines Prozesses, welcher die Idee eines Kalten Krieges zwischen Ost und West unterminierte. Die vorgestellten Protagonisten fügen sich in diesen größeren Zusammenhang ein. Der Wissenschaftsaustausch an der Regensburger Peripherie des Kalten Krieges folgte damit wesentlich anderen Mustern als der zwischen den USA und der UdSSR.
Notes
[1] Bernd Schaefer, Conference on Security and Cooperation in Europe (CSCE), in: Ruud van Dijk / William Glenn Gray / Svetlana Savranskaya / Jeremi Suri / Qiang Zhai (Hrsg.), Encyclopedia of the Cold War, Bd. 1: A–J, New York / London 2008, S. 186–188.
[2] Akira Iriye, Historizing Cold War, in: Richard H. Immerman, Petra Goedde (Hrsg.), The Oxford Handbook of Cold War, Oxford 2013, S. 15–31, hier S. 20.
[3] Da an den fraglichen Maßnahmen fast ausschließlich Männer beteiligt waren, wird hier i. d. R. die maskuline Form benutzen. In den seltenen Fällen, in welchen Frauen einbezogen waren, wird dies explizit erwähnt.
[4] Andreas Becker / Klaus Buchenau (Hrsg.), Die Universität Regensburg im Kalten Krieg, Regensburg 2017.
[5] Iriye, Historizing Cold War.
[6] Jussi M. Hanhimäki, Détente, in: van Dijk u. a., Encyplopedia, S. 250–254.
[7] Yale Richmond, Cultural Exchange & Cold War. Raising the Iron Curtain, Pennsylvania 2003, S. 21–64; Giles Scott-Smith, Opening Up Polical Space. Informal Diplomacy, East-West Exchanges and the Helsinki Process, in: Simo Mikkonen / Pia Kiovunen (Hrsg.), Beyond the Divide. Entangled Histories of Cold War Europe, New York / Oxford 215, S. 23–43.
[8] Andreas Becker, Historische Einleitung, in Ders. / Buchenau, Universität Regensburg, S. 11–20, hier 12; Klaus Buchenau, Außerhalb der Systemkonkurrenz. Partnerschaften mit Universitäten im sozialistischen Jugoslawien, ebenda, S. 73–79.
[9] UAR, Rep. 76 Personalakten, Nr. 139.
[10] Becker, Historische Einleitung, S. 11–13.
[11] Grau, Neue Ostpolitik; Rechtsgrundlage für den sich vertiefenden Austausch mit der DDR wurden das deutsch-deutsche Regierungsabkommen vom 6. Mai 1986 und das Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit vom 8. September 1987, die durch eine Vereinbarung der DFG und der Akademie der Wissenschaften der DDR vom 22. Dezember 1988 ergänzt wurden. Im Sommer und Herbst 1989 hatte Prof. Dr. Karl O. Stetter als einer der ersten westdeutschen Wissenschaftler eine Kooperation mit dem Institut für Biotechnologie (IBT) Leipzig auf den Weg gebracht. Vom 7.–9. November 1989 besuchte eine Delegation von Biologinnen und Biologen aus der DDR unter Leitung von Prof. Dr. Pöhland die Universität Regensburg; vgl. RUZ 1/1989, S. 4 u. 6 sowie RUZ 7/1989, S. 10.
[12] Helmut Altrichter, Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in: Pim den Boer, Heinz Duchhardt, George Kreis, Wolfgang Schmale (Hrsg.), Europäische Erinnerungsorte, Bd. 2: Das Haus Europa, München 2012, S. 517–524.
[13] Der Schwerpunkt der Kontakte lag eindeutig in Ost- und Südosteuropa, aber es gab auch Beziehungen zur UdSSR; siehe: vgl. Andreas Becker, Gastvorträge osteuropäischer Wissenschaftler an der Universität Regensburg, 1976–1990, in: Becker / Buchenau, Die Universität Regensburg im Kalten Krieg“, S. 121–131.
[14] Richmond, Cultural Exchange, S. 21–64.
[15] Die Zahlen sind zusammengestellt nach Universitätsarchiv Regensburg, Rep. 56 Verein der Freunde der Universität Regensburg, Nrn. 151 bis 168 und Nrn. 242 bis 312.
[16] Ekkehard Völkl.
[17] Bernhard Gajek, Hans Joachim Kreutzer, Gert Klingenschmitt (Albanien).
[18] Romanisten: Gerhard Ernst (Rumänien).
[19] Heinz Kneip, Erwin Wedel, Klaus Trost.
[20] Norbert Brox, Wolfgang Beinert.
[21] Klaus-Jürgen Range, (Bulgarien), H.P. Molitoris, Richard Bonart, Karl Hermes.
[22] Scott, Smith, Opening-Up, S. 25.
[23] Ebenda, S. 25–26.
[24] Bei den Ostpartnerschaften handelt es sich um ein Programm des DAAD, das seit 1974 besteht und im Kontext der „Neuen Ostpolitik“ entstanden ist; siehe: https://www.daad.de/de/infos-services-fuer-hochschulen/weiterfuehrende-infos-zu-daad-foerderprogrammen/ostpartnerschaften/, eingesehen am 8. Juli 2023.
[25] Es handelt sich um einen bedeutenden polnischen Familienrechtler, zu dem wir jedoch keine weiteren biographischen Angaben finden konnten.
[26] Stecki, Leopold, in: Kto jest kim w Polsce. Informator biograficzny, Warszawa 2001 (4. Auflage), S. 893–894.
[28] UAR, ZR 3397.
[29] Schreiben Henrich an Winiarz vom 16.01.1979, UAR, ZR 3397. Eine solche Floskel findet sich in zahllosen Schreiben und ist dem Umstand geschuldet, dass ein bloßer punktueller persönlicher Kontakt für eine Förderung kaum ausreichte.
[30] Schreiben Stecki an Hedrich, 15.01.1979, UAR, ZR 3397.
[31] Schreiben des DAAD an Henrich, 31.01.1979, UAR, ZR 3397.
[32] Vormerkung Nr. I 308–11/ vom 17.07.1979, UAR, ZR 3397.
[33] Briefe Stecki an Henrich vom 23. April und 26. Juni 1979, UAR, ZR 3397.
[34] Schreiben Stecki an Henrich vom 11.08.1979, UAR, ZR 3397.
[35] Schreiben der DFG an Henrich vom 01.10.1980, UAR, ZR 3397.
[36] Schreiben Stecki an Henrich 25.05.1981; Schreiben Henrich an Stecki, 26.06.1981, UAR, ZR 3397.
[37] Z.B. Schreiben Henrich an Winiarz, 20.03.1981, UAR, ZR 3397.
[38] Schreiben Henrich an Winiarz vom 25.11.1980, UAR, ZR 3397.
[39] Die Zahlen sind zusammengestellt nach Universitätsarchiv Regensburg, Rep. 56 Verein der Freunde der Universität Regensburg, Nrn. 151 bis 168 und Nrn. 242 bis 312.
[40] Hoffmann an den Vorsitzenden des Vereins der Freunde, 29.10.1985. UAR, Best., Rep 56 Nr. 821, S. 11.
[41] Prof. Dr. Hans Bungert war von 1981 bis 1989 im Amt.
[42] Bungert an den Vorsitzenden des Vereins der Freunde, 25.09.1985, UAR, Best., Rep 56 Nr. 821, S. 8.
[43] UAR, Rep. 56 VdF, Nr. 282.
[44] UAR, Rep. 56 VdF, Nr. 171.
[45] UAR, Rep. 11 ZR, Nr. 7538.
[46] Brief Bungert an den DAAD vom 06.02.1985, UAR, Rep. 11 ZR Nr. 3397.
[47] Brief des DAAD an Bungert vom 05.03.1985, UAR, Rep. 11 ZR Nr. 3397.
[48] von Philipsborn an den Vorsitzenden des Vereins der Freunde, 08.09.1987, UAR, Best., Rep 56 Nr. 282. S. 9.
[49] von Philipsborn an den Vorsitzenden des Vereins der Freunde, 09.09.1987, UAR, Best., Rep 56 Nr. 282, S. 8.
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